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Über die Enttabuisierung „unerwünschter“ Gefühle

„Wer eine Wahrheit nicht hören will, fühlt sie schon.“(Miku)

Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind die zentralen Gefühle unserer Zeit. Interessanterweise sind sie aber kaum Gegenstand psychologischer Forschung und es ist sicher auch kein Zufall, dass der deutsche Wikipediaeintrag zur Ohnmacht in der Psychologie (1) nur die negativen Folgen von Ohnmachtserleben erwähnt und die weit wahrscheinlicheren Möglichkeiten einer positiven Überwindung komplett ignoriert. Studien zum Posttraumatischen Wachstum (2) zeigen nämlich, dass 60 – 80 % der Menschen, die eine tiefgreifende Krise durchlebt haben, dadurch langfristig zufriedener und stärker geworden sind. Diese false balance ist zum vorherrschenden Narrativ geworden und findet sich auch in der Klimabewegung, der Klimapsychologie und den Medien wieder.

In dem Anfang 2023 erschienenen Medienleitfaden-Klima der Psychologists for Future (3) schreiben die Autor*innen: „Gerade Hilflosigkeit und Ohnmacht sind „Sorgenkinder“ der emotionalen Bandbreite ... da sie weitere ungünstige Verarbeitungsstrategien wie z.B. Lähmung und Inaktivität oder Radikalisierung begünstigen....Hilflosigkeit muss möglichst abgebaut werden. Gegen Hilflosigkeit hilft entsprechend, Handlungsfähigkeit (wieder-)herzustellen ...Handlungsfähigkeit herstellen Sich selbst als handelnd und handlungsfähig zu erleben, ist ein wirksamer Schutz vor belastenden Gefühlen und fördert unmittelbar das Wohlbefinden“.Nicht die Fähigkeit, die Realität möglichst umfassend wahrnehmen und starke Gefühle aushalten und daran wachsen zu können steht demzufolge im Zentrum psychologischer Initiative, sondern die Herstellung von Handlungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit, Hoffnung und individuellem Wohlbefinden. All dies sind Qualitäten, die in erster Linie das Aufrechterhalten des Alltags und der bestehenden Ordnung sicherstellen. Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit werden hingegen als störend empfunden und somit abgewehrt.
Menschen die nicht mehr daran glauben, dass wir die katastrophalen Folgen unserer Lebensweise noch verhindern können, werden innerhalb der dominierenden Narrative zwangsläufig ausgegrenzt und pathologisiert oder als Überbringer unangenehmer Botschaften quasi zu Tätern erklärt. In seinem vielzitierten Buch „Propagandaschlacht ums Klima“ geht der Autor und Klimawissenschaftler Michael E. Mann sogar so weit, sie pauschal als Lobbyisten der fossilen Unternehmen darzustellen. Der Umweltaktivist Derrick Jensen (4) hingegen wies bereits 2006 darauf hin, dass es unsere „falschen“ Hoffnungen sind, die uns an das System gekettet halten, welches unsere Lebensgrundlagen zerstört und auch die Psychologin Steffi Bednarek (5) erklärt, dass Hoffnung zu einem Abwehrmechanismus geworden ist, der hohe Kosten mit sich bringt. Der Autor Matthias Becker analysiert in seinem Artikel „Lerne du deinen Kopf in die Erde stecken“(6), dass die Psy4F reale Machtlosigkeit als Fehlinterpretation und Hemmung umdeuten und Individuen durch ihr Engagement das kollektive Versagen quasi kompensieren sollen.
Diese Individualisierung gesellschaftlicher Missstände ist ein wesentliches Element neoliberaler Ideologie. Warum sich gerade die Psy4F als Wegbereiter einer gesellschaftlichen Transformation darstellen, ist daher schwer nachzuvollziehen. Gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse und Einschränkungen der Wahrnehmung bestimmter Gefühle und Bedürfnisse stehen in einem engen Zusammenhang und es mag daher kein Zufall sein, dass die Unterdrückung der Frauen mit der Tabuisierung weiblicher sexueller Lust einherging.

Ich möchte nicht in Zweifel ziehen, dass auch Ohnmachtserleben, vor allem bei einer bestehenden psychischen Erkrankung pathologisch sein kann. Wie beim Angsterleben, ist dies aber nicht der Regelfall. Eine wichtige Aufgabe von Psychotherapie ist es daher, zwischen realistischer und pathologischer Angst zu unterscheiden. Realistische Angst hat, wie alle Gefühle eine Appellfunktion und bereitet überlebenswichtiges Handeln vor. Ohnmacht, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit treten in der Regel in lebensbedrohlichen Gefahrensituationen auf, denen wir schutzlos ausgeliefert sind. Sie führen zwar kurzfristig zu Lähmung, bilden aber die Voraussetzung für einen Trauerprozess, welcher einen tiefgreifenden inneren Wandel erst möglich macht. Beispielsweise werden Menschen, die die Diagnose eine unheilbaren und tödlichen Krankheit erhalten haben, erst durch die Akzeptanz und das Aufgeben unrealistischer Heilungserwartungen fähig, ihre verbleibende Lebenszeit neu zu bewerten und sinnstiftend zu gestalten. Diese Art von Wandlungsprozess wäre aus meiner Sicht auch auf einer gesellschaftlichen Ebene extrem wichtig, denn erst das Bewusstsein über die Unausweichlichkeit zukünftiger Katastrophen und Worst-Case-Szenarien ermöglicht uns eine angemessene Vorbereitung. Unter welchen Bedingungen dieser Bewusstwerdungsprozess gelingen kann, sollte daher zentraler Gegenstand psychologischer Initiative sein.

Es gehört außerdem zu psychotherapeutischem Basiswissen, dass die Vermeidung von Schmerz in der Regel zu Scheinlösungen oder Symptomverschiebungen führt. Warum bieten uns Klimapsycholog*innen also keine Wege an, die uns durch den Schmerz führen? Sind sie selbst zu sehr in ihrer Betroffenheit und einer daraus resultierenden Abwehrhaltung gefangen oder halten sie reflexhaft und unreflektiert an einem System fest, von welchem sie in hohem Maße profitieren?

Wir befinden uns also in einem Dilemma. Der Schritt nach vorn, kann nur ein Schritt zurück sein. Aktionistisches Getriebensein dient oft der Abwehr unangenehmer Gefühle wie Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die Abwehr dieser Gefühle im Sinne einer Schmerzvermeidung hilft uns nicht, unsere Handlungsspielräume realistisch einzuschätzen und somit angemessene Lösungen zu finden. Innehalten und emotionale Verarbeitung brauchen Zeit, die wir aufgrund der dramatischen Beschleunigung der Krisen allerdings nicht haben, denn die Zeitfenster zur Schadensbegrenzung schließen sich immer weiter. Genau an dieser Stelle sollten wir uns die Frage stellen und darüber diskutieren, was Hoffnung und Zuversicht wirklich bedeuten.

Quellen:

(1) Wikipedia: Ohnmacht (Psychologie). Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Ohnmacht_(Psychologie) (abgerufen am 28.04.2023)

(2) Wikipedia: Posttraumatisches Wachstum. Wikipedia.Unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Posttraumatisches_Wachstum (abgerufen am 20.11.2020)

(3) Psychologists for Future e.V.: Medienleitfaden Klima. Unter: https://medienleitfaden-klima.de/empfehlungen/ (abgerufen am 28.04.2023)

(4) Jensen, Derrick (2006): Beyond Hope. Unter: https://orionmagazine.org/article/beyond-hope/ (abgerufen am 28.04.2023)

(5) Bednarek, Steffi (2020): This is an emergency. Unter: http://www.psychotherapyinbrighton.com/blog.php (abgerufen am 18.05.2020)

(6) Becker, Matthias (2022): Lerne du deinen Kopf in den Sand stecken. Unter: https://www.sozonline.de/2022/07/lerne-du-deinen-kopf-in-die-erde-stecken/ (abgerufen am 28.04.2023)

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